Band: all diese gewalt
Album: ANDERE
VÖ: 06.11.2020
Label/Vertrieb: Glitterhouse Records / Indigo
Website: https://www.facebook.com/alldiesegewalt/
all diese gewalt/Max Rieger Info
„Seit ich Musik mache, wollte ich immer etwas haben, das nur meines ist.“ So entschied Max Rieger 2013 neben seinen Bands Die Nerven und Die Selektion mit all diese gewalt sein erstes Soloprojekt zu verfolgen. Liest man Riegers Musiker- und Produzentenbiografie, könnte man meinen, der Mann stecke irgendwo in den Vierzigern und könne keinesfalls Jahrgang 1993 sein. Ist er aber. Das hohe Tempo, die parallele Arbeit an verschiedenen Themen scheinen ihm zu liegen. „Ich mag Berlin, weil Berlin so stressig ist und ich will nicht durchatmen, weil das nicht mein Stil ist.“ Deshalb musste der Musiker vor drei Jahren raus aus Leipzig, „weil da alle immer so gechillt waren und dauernd an Badeseen abhingen“. Auch wenn er damals nicht sicher war, ob er sich diesen Umzug würde leisten können.
Berlin hat wohl auf Rieger gewartet oder vielleicht hat er sich die Stadt auch einfach auf die ihm eigene Art erobert, denn meistens warten hektische Metropolen auf niemanden. Vor Ort wird er jedenfalls bereits als der deutsche Rick Rubin geadelt, so der O-Ton des Tagesspiegel, seiner Arbeit als Produzent vertrauen unter anderem Drangsal, Ilgen Nur, Jungstötter, Mia Morgen und Karies und beim Film des Jahres, Berlin Alexanderplatz, hat er Stücke des Soundtracks komponiert, um nur das Prominenteste von mehreren Filmprojekten der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart zu nennen.
Sein Soloprojekt all diese gewalt zeichnet in den sieben Jahren seines Bestehens und in allen Veröffentlichungen eine Kontinuität in der Grundstimmung aus, die von Melancholie, dem Wissen um die Möglichkeit von Einsamkeit oder Verlassenwerden und der Suche nach und der Frage um Liebe und Glück getragen ist. Gleichzeitig hat Max Rieger die Produktionsweise seines Soloprojekts deutlich verändert, um nicht zu sagen professionalisiert: Klingt das Debüt KEIN PUNKT WIRD MEHR FIXIERT (2014) unmittelbar wie aus dem Proberaum ohne größeren Aufwand in der Postproduktion veröffentlicht, mehr Punk als Post sozusagen, trägt WELT IN KLAMMERN (2016) bei ähnlicher Stimmungsfarbe eine ganz andere Produktionshandschrift. Hier erinnern unzählige Musikspuren an übereinanderliegende Farbschichten eines Gemäldes, raue Bass-Sounds weichen häufiger Synthie-Klängen, jeder Song getragen von wechselnden, teils extremen Drone Sounds.
Was WELT IN KLAMMERN produktionstechnisch unterscheidet und ausmacht, erfährt auf ANDERE (2020) eine weitere Perfektionierung. Vielschichtigkeit, sphärische Klänge kontrapunktisch gesetzt zum Textgeschehen, eine hohe dramaturgische Bandbreite innerhalb der Songstruktur und ein Gesang, der singender und heller als früher anmutet, dabei aber der Düsternis der Texte nicht das Geringste wegnimmt.
Max Rieger scheint ein Mensch mit vielen künstlerischen Talenten zu sein, hat er doch auch ein Kunststudium begonnen und abgebrochen und auch über eine Laufbahn als Modedesigner nachgedacht. Warum die Musik? „Ich habe mich am Ende für Musik entschieden, weil ich glaube, man muss sich für eine Sache entscheiden, damit man wirklich gut wird. Und Musik ist für mich das Unmittelbarste; selbst wenn man sich die Ohren zuhält, bleibt ein Vibe, eine körperliche Reaktion.“ Gute Entscheidung.
——————
„ANDERE“ ALBUM INFO
Pompös, monumental, sphärisch, sogartig, melancholisch, verletzlich, hier und da ironisch – vieles, was die Beschaffenheit von ANDERE beschreibt, diese Stimmung, die aufsaugt und nach Albumende längst nicht wieder loslässt, fängt schon beim ersten Hören ein. Gleich zu Beginn setzt Max Rieger in HALTE MICH die Grundstimmung für die folgenden Geschichten auf dem zweiten Album seines Soloprojekts all diese gewalt, das am 6. November 2020 auf Glitterhouse Records erscheint: „Nichts kommt mir zu nah / Zweifel immer da / du weißt alles ist wahr / alles ist Fassade / alles ist Versteck / halte mich bedeckt.“
Bekanntlich gibt es unzählige Hörarten und Rieger kommt zu einem ganz eigenen Urteil. „Ich finde das Album, so wie es jetzt geworden ist, furchtbar.“ Autsch. Haben wir uns in Gänze verhört? Sind wir einem Bild erlegen, das wir schon im Vorfeld entworfen hatten? Auch nach zehn, zwanzig, dreißig Durchläufen will es nicht furchtbar werden, bleibt im Gegenteil stark, berührend, facettenreich und doch stimmig.
Anders als WELT IN KLAMMERN, der deutlich konzeptionellere Vorgänger, in dem kein Stück hätte fehlen oder ergänzt werden können, stehen die elf Songs aus ANDERE zwar in Kontakt, können aber auch zu jeder Zeit einzeln stattfinden. Obschon die Eröffnung HALTE MICH und der abschließende Titelsong ANDERE das Album umfassen und eine sichernde Umhüllung bilden, herrscht hier große Song-Autarkie. Der Entstehungsweg unterscheidet sich von den früheren, was laut Rieger auch an der Länge des Arbeitsprozesses von über vier Jahren liegt.
„In den ersten zwei Jahren gab es in der Arbeit an ANDERE keinen roten Faden. Ich habe ihn erst auf den letzten Schritten gefunden.“ Und noch etwas hat sich gewandelt. Die Texte bestechen in einer Schlichtheit, die erst in der Durchdringung und Verdichtung von Geschriebenem entsteht. „Ich bin deutlich konkreter geworden und immer mehr abgeschreckt von verwaschenen Aussagen. Die Vorstellung, man müsse Sprache in Musik poetisieren, finde ich nicht treffend und ich finde es nicht mehr zeitgemäß, sich abzuheben und elitär zu sein.“
Umso geräumiger und flächiger darf der Sound daherkommen, wie ein vielschichtiger Teppich oder eine sich steigernde Beat-Schraube. In ERFOLGREICHE LIFE unterstreicht ein anschwellender Jahrmarktsound die Ironie des Erzählten „erfolgreiche Life / nie mehr verlieren / erfolgreiche Life / alles funktioniert / erfolgreiche Life / uh ungeniert / erfolgreiche Life / extrovertiert“. In GRENZEN findet sich die Geschichte in den Klang einer New Wave Gitarre gebettet – „Netze zwischen Räumen / die Angst neutraler Leute / vor gestern morgen heute“, in GIFT wiederum lässt einen die anfängliche Klangkühle fast frösteln und mündet schließlich in etwas Drohendem, Aggressivem: „Was soll ich damit / was aus der Tiefe aus mir spricht / das hier war niemals ich / nein das bin ich wirklich nicht / wenn doch dann bin ich nicht ich / wenn doch dann will ich das nicht“.
Sich zeigen macht verletzlich und Rieger beschreibt den größten Unterschied zwischen Bandleben und Soloprojekt: „Bei Die Nerven haben wir kollektive Gedanken und teilen jede
Reaktion durch drei. Dort bin ich viel angriffslustiger und deutlich weniger verletzlich. Bei all diese gewalt entscheide ich allein, stehe aber auch allein in der Verantwortung.“
Wer einmal tiefen Schmerz, manifeste Einsamkeit, für den Moment endgültige Verlassenheit gefühlt hat, kann auf ANDERE hören, dass Riegers Musik diese Tiefe besitzt, die nicht an jeder Ecke hörbar, sichtbar, spürbar wird und die nicht auf der verzweifelten Suche nach der vielbeschworenen Authentizität plötzlich vor die Füße fällt. Schaut man auf die Facebook- Seite von all diese gewalt, so lautet ein Eintrag von Januar dieses Jahres:
„VIER JAHRE SELBSTDEKONSTRUKTION MÜSSEN REICHEN.“ – „Vielleicht finde ich es deshalb furchtbar, weil ich in diesem langen Entstehungsprozess nicht mit mir im Reinen war. Jetzt ist es schmerzlich, genau das zu hören“, denkt Rieger laut nach.
Darauf können wir uns verständigen. ANDERE ist vieles, aber gewiss nicht furchtbar.